Redibo, tu nunquam.

Das Schöne an einer Klassengesellschaft – und wohl auch der Grund, warum wir daran festhalten – ist der Umstand, dass sie uns alle von der Pflicht entbindet, sich mit Ungewohntem auseinander zu setzen. Stellen wir uns vor, eine gegenderte Darkroombesucherin einer Berliner Szenedisco, ein 55-jähriger Fernfahrer aus einem Baumarktgrill und ich müssten jeweils für einen Tag in die Rolle der jeweils anderen schlüpfen… keiner würde sich durchgängig wohl fühlen, jeder wäre froh, wenn er wieder da wäre, wo er sich geborgen fühlt. Ungeachtet des Umstandes, dass wir vor Gesetz, Staat, Wahlurne, Bildung und vielen anderen Aspekten gleich sind, so sind wir doch alle froh um ein paar klare Kernunterschiede, an denen wir unser Sozialverhalten und unsere Belange orientieren. Klassen schliessen Bekanntschaften mit anderen Gruppen natürlich nicht aus, aber sie sorgen aus sich heraus dafür, dass die Überschneidungen klein, überschaubar und vor allem kontrollierbar bleiben: Man kann Zugang gewähren und bekommen, ohne sich irgendwie verpflichten zu müssen.

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So hat es bei mir etwa vergleichsweise lang gedauert, bis ich in der realen Welt auf einen Menschen aus der PR-Branche traf, denn so etwas gab es natürlich in keinem Westviertel der 80er und frühen 90er Jahre. Leider endete dieser Zustand irgendwann, ich bekam Visitenkarten von Verlagsangestellten überreicht, seltsame Einladungen zu Events mit wenig erbaulichem Catering, und obskure Wünsche, Fragen mit Politikern abzustimmen. Aber diese Bekanntschaft bleibt meistens sehr vage, unverbindlich und auf wenige berufliche Momente begrenzt. Manche PR-Mitarbeiter wollen jedoch mehr, und da kann es passieren, dass man einmal in ein Restaurant geht und einmal zusammen auf einem Podium sitzt. Im Jahr 2005 passierte mir das, wenn ich mich richtig erinnere, denn es ist lang her. 2014, nach 9 Jahren, schreibt dann der besagte PR-Mensch öffentlich im Internet, er würde einen kennen. Und damit sind wir beim Thema: Warum wir nämlich das Essen so oft selbst bezahlen.

Man wird sich heute leider nicht mehr oft vorgestellt wie früher, auf neutralem Boden wie dem eines Konzertvereins, von Mittelsmännern oder Grosstanten, die meinen, man würde zueinander passen. Man stellt sich heute im besten Fall selbst vor, man quatscht sich leider oft im Internet an, und manchmal sind es wirklich famose Menschen, die man sonst nie kennengelernt hätte. Diese Person jedoch, die jüngst über die Kenntnis meiner Wenigkeit geschrieben hat, blieb eher aussen vor. Ich denke, es ist jedem einsichtig, dass einem Essen in Berlin und einer Stunde auf einem Münchner Podium keine intensive Freundschaft entspringen kann, und auch kaum die Vertraulichkeit, dass man sich öffentlich mit besonderem Wissen brüsten könnte. Gänzlich ungeachtet des Umstandes übrigens, dass sich Menschen in 9 Jahren verändern können, und man alte Erfahrungen nicht als Grundlage neuer Aussagen begreifen sollte. Manchmal stimmt zudem einfach die Chemie nicht.

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Und es gibt Leute, da stimmt nicht nur die Chemie nicht, die sind wie ein Angriff mit C-Waffen. Natürlich kann man sich das nicht immer aussuchen, mitunter ist man beruflich gezwungen, lange mit ihnen zu kooperieren, oder es ist aus Gründen der Schicklichkeit ratsam, den Kontakt mit grosser Distanz weiter laufen zu lassen, bis er einschläft. Das ist so wie früher im Stadtpark oder im Schützenverein: Man weiss genau, dass der andere ein Hallodri und Heislschleicha ist, aber um des lieben Friedens oder der Bequemlichkeit willen sagt man Grüss Gott oder wechselt sogar ein paar unverbindliche Worte. Aber nie würde man in der Schuld so einer Person stehen wollen. Nie würde man zu viel preisgeben, und hinter der Fassade der Unverbindlichkeit wäre der Wunsch, jede echte Verbindung wirksam zu unterbinden. Trifft man sich aber beim Essen und wird man eingeladen, so hat man gar keine andere Option, als die Einladung irgendwann freundlich mit einer Gegeneinladung zu beantworten, selbst wenn man den Eindruck hat, nach dem letzten Male rieche die Kleidung noch nach dem Chlor der Missgunst, dem gelben Senfgas des Neides, oder auch nur nach der Verwesung simnlos vergeudeter Lebenszeit.

Und dann macht man es eben sehr modern, wie ein Panzer mit ABC-Schutz, und reinigt sich mit Überdrück. Man ist wahnsinnig freundlich und unverbindlich, bei solchen scheiternden Treffen, man sagt viel Amüsantes und gleichzeitig nichts: Man gibt nur zu, was ohnehin bekannt ist und meidet alles, was nicht in die Öffentlichkeit soll. Natürlich ist das Verstellung, aber sie hat ja auch einen guten Zweck. Es geht so zünftig zu, es quillt so viel Nettigkeit aus den sozialen Dichtungen, dadurch kommt nichts an uns heran, und weil es so nett war, muss der andere doch nicht bezahlen. Und der andere hat auch nicht den Eindruck, dass er bestenfalls nur so mittelerträglich war – überhaupt nicht. Nein, der andere soll ruhig im Glauben leben, dass er hochverehrt und respektiert ist. Er soll glauben, dass man wirklich gerne bezahlt. Aber bitte, nein, lassen Sie, wirklich, gerne, mit grösstem Vergnügen, danke für das reizende Gespräch und die Anregungen, wir müssen das bald wiederholen… und danach ist man untröstlich, wirklich untröstlich, wenn einen terminliche Gründe davon abhalten, auf seine Gegeneinladung einzugehen.

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Denn natürlich empfinden wir für solche Leute mehr als nur gewöhnliche oder eingebildete Ablehnung; es sind die paranoiden Vorstellungen meiner Schicht, die uns dann wirklich plagen. Das sind so entsetzliche Gedanken wie der, dass der andere vielleicht mal in seinem Büro sagen könnte: Ach, wir haben da dieses Projekt und da kenne ich den und dann machen wir das mal… und man gezwungen sein könnte, irgendwo zwischen persönlicher Bekanntschaft und beruflichen Zielen in die Pflicht genommen zu werden. Früher, in den kleinen Städten, konnte man das trennen, heute, im globalen Kapitalismus, ist man mal Freund und mal auszunehmender Kunde. Oder noch schlimmer, so eine Scheinbekanntschaft macht die Runde, und man wird öffentlich und unvermittelt auf diesen gemeinsamen “Freund” angesprochen wird. Es ist schwer zu sagen, was so einer irgendwo in der Welt tut, wenn er nicht der totalen Sozialkontrolle der Heimat ausgesetzt ist. Er kann alles mögliche behaupten. Und da ist es beruhigend, wenn man sagen kann: “Oh, stimmt, ja diesen X, den habe ich mal vor 9 oder 10 Jahren zum Essen… ich weiss gar nicht mehr… war das in Berlin? Damals war ich ja wirklich viel unterwegs… eine Ewigkeit. Ja. Kennen? Äh nun ja nein, das war eher…” So spreche man und vermittle dem anderen dezent den Eindruck, dass er da einem Hochstapler aufgesessen ist.

Guten, wirklich guten Gewissens kann man das eigentlich nur tun, wenn man selbst bezahlt und idealerweise noch die Rechnung liegengelassen hat, und damit unbelastet und verpflichtungsfrei in das weitere Dasein schreiten kann. Zudem mag man bedenken, dass unsere schnellen Zeiten auch andere drastisch verändern, besonders, wenn sie den Zwängen jenseits der Klasse ausgesetzt sind: Bei uns kann man sich darauf verlassen, dass die Angst vor gegenseitigen Indiskretionen das Schweigen erhält, aber was weiss man schon von einem, der 5, 7 oder 10 Jahre später am anderen Ende des Landes meint, sich profilieren zu müssen, wenn er dafür keinen Preis mehr zu zahlen hat? Man weiss es nicht, man befürchtet es nur, man traut der eigenen Tradition nicht, dass sich aus seinem Gaststatus für ihn gewisse Verpflichtungen ableiten sollten, aber wenigstens hat man nicht den Eindruck, man sei solchen Leuten noch etwas schuldig.

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Für die anderen, die nicht mit einer Einladung auf das zwischenmenschliche Abstellgleis geschoben und höflich ausrangiert werden, mag das alles grässlich klingen, denn wie soll man unterscheiden zwischen eine freundlich gemeinten Einladung und einer freundlich wirkenden Zurückweisung? Nun, die Antwort ist einfach: War alles in Ordnung, bleibt es nicht dabei, es gibt Wiederholungen und niemand wird dabei auf so etwas Banales wie Geld schauen, oder danach gar irgendetwas über diese privaten, zwischenmenschlichen Dinge ins Netz zu tragen. Nicht jetzt und auch nicht später.