Warum liegt hier überhaupt Stroh rum?

Mein Lodenmantel ist nicht modisch, sondern von einer Firma, deren Kunden Jäger, Förster, Reiter und Bauern sind. Der Stoff kommt aus einem Hochtal bei Innsbruck, er ist grob und dick, und ausserordentlich steif. Fast ist es eine Rüstung gegen Schnee, Regen, Outdoornorddeutsche und Eis und was sonst einem im Gebirge drohen mag. Absurd teuer erscheint er nur, wenn man ihn im Geschäft sieht, aber nach drei Wintern, die ohne jedes Gefühl von Kälte und Nässe überstanden wurden, war es der beste Kauf, den man sich vorstellen kann. Im Stich gelassen hat mich der Mantel nur ein einziges Mal. Nicht auf dem Eis des Sylvensteinspeichers und nicht auf dem verschneiten Weg zum Hirschberg. Sondern in Frankfurt, im Oktober, in einer U-Bahn-Station im Westend. Denn gegen die Kälte des Wetters ist der Mantel entworfen worden, nicht aber gegen die Kälte, die sich aus den Stahlrohren einer Bank in der U-Bahn kriechend, nach zwei Minuten höchst unangenehm bemerkbar macht.

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Vermutlich gibt es für diese Bank schon eine Modellbezeichnung, aber ich nenne sie Prokrustesbett. Oder “Die kleine kalte Schwester der eisernen Jungfrau”. Oder auch “Vlad der Pfähler”. Das Ding ist vollkommen unzumutbar und angesichts der Tatsache, dass ich das im Schweisse der Angesichter der Untertanen meiner Vorfahren sauer verdiente Geld für die Nichtbeförderung und den Verbleib an diesem Ort wegen Zugverspätung ausgebe, eine sagenhafte Frechheit. Ich würde gern die Menschen kennenlernen, die so etwas entwerfen, bauen, verkaufen, sich dafür entscheiden und aufstellen. Und sie dann einfach mal drei Tage drauf sitzen lassen. Es wirkt nicht so schnell wie die Ochsenpeitsche meiner Altvorderen, aber nach drei Tagen, nehme ich an, hat man darauf wunde Stellen, einen langfristigen Haltungsschaden und die Erkenntnis, dass es eine unfassbare Unhöflichkeit ist, so etwas einem Kunden hinzustellen. Es ist ein Skandal und eine Folter.

Ich will nicht bestreiten, dass dieser Skandal auch eine gewisse Erkenntnis mit sich bringt. Diese U-Bahn-Station richtet Menschen dazu ab, solche Unverschämtheiten hinzunehmen. Es gibt keine Alternative. Sie gewöhnen sich daran, so behandelt zu werden, und wer sich schon freiwillig so behandeln lässt, der wird später, wenn er dafür Geld bekommt und keines hergeben muss, beruflich auch viele Demütigungen hinnehmen. Er wird sich aller Voreile berauben lassen. Man muss sich vorstellen, mit so einer Bank beginnt für die Frankfurter ein Tag. Die ganze Welt und diese Bank im Besonderen sagen ihm: Du bist hier nicht willkommen. Du sollst hier gar nicht sein. Gnadenhalber und mit Qualen darfst Du etwas verweilen, wenn die Füsse Dich nicht tragen, aber damit sich das wenigstens für uns lohnt, sind Dir gegenüber Werbedisplays, die Dir ein schöneres Leben vorlügen, obwohl diese Bank idaltypisch für Dein ganzes Dasein zwischen Mietwohnungsloch und Leasingauto steht. Ruhig liegen darfst Du erst, wenn Du tot bisr.

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Das Schlimmste an der Sache ist: Das wird einfach so hingenommen. Das hier ist schliesslich der erste Text, der verklausuliert zum Aufstand aufruft. Natürlich kann man so eine Bank auch nicht zerstören, niederbrennen und zerhacken, sie steht ewig wie der Eingang in die Stadt der Schmerzen und wenn man daran sein Blut vergossen hat, wird sie einfach abgewaschen; insgesamt ist ein Aufstand dagegen so erfolgversprechend wie die Erwartung, die Bundesregierung würde unsere Daten vor den amerikanischen Freundverbrechern schützen. Aber man könnte doch wenigstens einmal Guerillaseidenbrokatkissen mitbringen. Oder sich einen hübschen Biedermeiersessel herunter tragen lassen, damit den anderen klar wird: Diese Normalität, in der Ihr lebt, ist ein Verbrechen. Was nutzt Euch der ganze Wohlstand, wenn Ihr trotzdem auf solchen Bänken sitzen müsst, gegen die nicht mal bester Loden hilft, geschweige denn der billige Tand, den Ihr hier für nobel haltet? Das ist widernatürlich und menschenunwürdig. Lasst Euch nicht so würdelos behandeln.

Der Frankfurter jedoch nimmt es hin und verkauft nachher noch ein paar steuerlich getürkte Verschmutzungsrechte, manipuliert einen Zinssatz, schreibt absurde Befürwortungen für Internetüberwachung, oder bewertet Sushi, ohne zu bedenken, wie die Meere für diesen seifenartigen Modetand kaputt gemacht werden. Er kennt es nicht anders, er wird so erzogen und er lebt danach, ja, er meint sogar, das sei richtig und diene dem Fortschritt und der eigenen Karriere. Und vermutlich fällt es mir auch nur auf, weil ich aus einer Welt komme, in der die Banken aus Holz sind, in einem Park stehen, wo keine U-Bahn fährt, und in die Lehnen eingeschnitzte Gedichtzeilen bekannter Lyriker tragen. In Meran etwa ist das so. Das sind echte Banken und sie laden ein, sich zu setzen und sogar im November die Aussicht zu geniessen. Das klingt unglaublich banal, aber wer Frankfurt kennt, der weiss: Diese Bank scheidet uns Menschen von jenen, die in Abtötung der Sinne vegetieren.

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Bei uns sind alle Banken so. Ihnen gegenüber ist nie ein Display, aber sehr oft eine atemberaubende Aussicht. Es gibt zum Beispiel an der Neureuth auf halbem Weg eine Bank, an der ich immer anhalte, um hinab ins Tal und ins ferne München zu schauen, so man es unter der Abgasglocke erkennt: Ich könnte auch durchmarschieren, es ist keine körperliche Schwäche, nur das Gefühl einer Hingabe. Es ist eine Bank, die mich verführt und flachlegt. Es gibt in Mantua Banken im Stadtpark, darauf schlafen die Leute im Sommer, und obwohl Italien so viel ärmer ist, sind die Banken freundlich grün gestrichen und so konzipiert, dass man nachgerade hineinrollt und so bleibt. Es sind Banken, die die Liebe zum Menschen errichtet hat, und keine einzige kostet etwas. Jeder darf sich darauf setzen und bleiben, so lange er möchte. Würde man hier ein Prokrustesbett aufstellen, nicht einmal die Hunde würden es nutzen. Alle Menschen wüssten, wie abstossend sie darauf wirken würden. Die Vögel des Parks würden es meiden. Die Pflanzen würden jene traurigen Büsche auslachen, die dahinter stehen müssten.

Und in Frankfurt meint man, das einem Menschen zumuten zu können. Soviel zum Thema “Krone der Schöpfung” aus Sicht der Verkehrsbetriebe. Vermutlich, ich weiss das ja nicht, ich verlasse Frankfurt immer so schnell wie möglich, gibt es Gründe, die man mit Excel und Powerpoint nachvollziehbar machen kann, und am Ende ist es so billiger als eine Holzbank im Park. Diese Bänke bei uns, die werden dennoch gern bezahlt und gestiftet, von Familien, Sparkassen, Restaurants und Kurgästen: Einfach, weil es schön ist und die Stifter finden, hier sollte man sich an sie wohlmeinend erinnern. Man ist gut zueinander. Freundlich. Man geht nett miteinander um. Es ist schön. Und es sollte eigentlich immer so sein.

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Sogar Alkohol – in der U-Bahn ein Zeichen der Verlotterung – wird hier schön und stimmungsvoll. Bald jährt sich der erste Weltkrieg zum 100. Mal, und man fragt sich, wie Menschen sich so etwas antun konnten, aber die Bänke in der U-Bahn speisen sich aus dem gleichen mörderischen Kalkül des Verdrängens, das uns Verdun brachte, Ikea anstelle von Möbeln und als Endpunkt des Untergangs des Abendlandes: Nespresso statt Kaffee. Und diese Nespresso-to-go-Bank, Hauptsache gehen, Hauptsache verschwinden in engen, vollgequetschten Neonräumen auf Rädern, hinein in die dunklen Röhren unter der Stadt. Es ist nur eine Bank, werden sie sich morgen dann wieder sagen, aber wer die Bank nimmt, nimmt auch den Rest als gegeben hin, und lässt sich strecken oder zurechthacken, damit es in die Verwertung passt.

Auf keiner einzigen Parkbanklehne im Meran steht übrigens ein Jahresabschluss oder eine Marktanalyse. Aber Menschen küssen sich. Denken Sie morgen auf dem Prokrustesbett daran und verachten Sie wenigestens den Nahverkehrsbetreiber, der Ihnen mit Eisen am Podex zu nah verkehrt.