Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden, man muss sie auch gehen lassen.
Jean Paul

Sie kennen das: Gerade stehen Sie auf der Terrasse ihres Anwesens über dem Starnberger See, verabschieden sich am Telefon mit bitterem Ton von Ihrem Anwalt, der Ihnen auch nicht helfen kann, und von hinten kommt Ihre Tochter. 18 ist sie geworden und so hübsch wie Paris Hilton und jetzt bringt sie ziemlich respektlos und unvermittelt das Thema zur Sprache, das ihr seit Monaten am Herzen liegt: Der Einstiegsporsche. Kostet auch nur 60.000. In etwas anderem möchte sie auf gar keinen Fall ihre Apple-Vollausstattung zum Studium bringen, wenn sie schon auf eine Wohnung in München verzichten muss. Statt 300.000, die man heute für einen Verschlag in der Maxvorstadt zahlt, nur 60.000. Das ist doch kein Geld und war auch für Sie keines, bis Sie angefangen haben, das Risiko zu streuen und es in Fondsprodukten zu finden. Deshalb haben Sie ja gerade mit Ihrem Anwalt telefoniert und wieder mal feststellen müssen, dass Sie gar keine Anteile an Immobilien gekauft haben. Sondern, ach, könnte man denen jetzt mit einem Holzscheit den Schädel…

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Sondern nur stiller, und daher das Maul zu halten habender Gesellschafter einer Firma sind, die gerade dabei ist, sich von ihrem viel zu teuren und durch Kickbacks an die Initiatoren überteuert gewordenen Immobilien zu trennen. Weil, wenn die Firma es nicht macht, droht die Insolvenz. Und weil Sie dann noch einmal zuzahlen müssen, ist das noch schlimmer als Ihr böser Verdacht, dass sich die Initiatoren, denen Sie einst vertrauten, nun gemeinsame Sache mit den Aufkäufern machten. Ja, Sie haben das Risiko gestreut und nun lauert es in jedem Vertrag. Sie leben im Moment von den Mündern ihrer Patienten in die Hand in den eigenen Mund. Das Pferd der Tochter geht gerade noch so, aber für den Porsche müssten Sie an die Reserven gehen. Papaaa, sagt die Tochter und macht deutlich, wie ungerecht das ist, weil sie es nun mal gewohnt ist, dass Papaaa ihr an jedes Ziel mit minimalem Aufwand hilft, Papaaa, ich kann doch nicht zu Fuss nach München, Papaaa.

Und Sie stehen da auf Ihrer Terrasse, schauen hinunter auf den Starnberger See, wo Segelboote im milden Herbstlicht kreuzen, und fragen sich, ob ein anderer Anwalt nicht vielleicht mehr tun und dem Gericht beweisen könnte, dass Sie von diesem Angebot mit 12% Rendite und 40% Steuerersparnis, die das Finanzamt jetzt wieder haben möchte, brutal und gemein getäuscht wurden. Dass Sie auch nur so eine Starnberger Version der Lehman-Oma sind. Dass das Gericht doch wirklich verstehen muss, dass Sie das eigentlich alles nur für Ihr Augenlicht, Ihre Tochter gemacht haben, damit die mal wenigstens drei Zimmer in Schwabing hat, als Sicherheit, und eine sichere Finanzierung für ihr Jahr in Oxford. Vielleicht kann ein Anwalt erklären, dass sich der Fondschef da an der Zukunft Ihrer Tochter und des Landes vergreift. Die 20.000, die das kostet, die haben Sie noch. Andere Auswege haben Sie nicht mehr. Und Sie fragen sich: Was hätte ich tun können?

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Nun, ich habe gute Nachrichten für Sie, weil ich auch einen guten Rat habe; der bringt Ihnen zwar nicht mehr viel, aber immerhin ist er gut und fraglos richtig: An der Gier der Menschen kann man nichts ändern. Alle sind wie Sie, alle wollen ihr Geld sicher anlegen, mit maximaler Rendite und dann ohne sich darum weiter kümmern zu müssen. Deshalb lachten Sie mit den Anlageberatern ja auch über alle, die lieber Immobilien horteten und sich nicht dazu bewegen liessen, ihr Vermögen in kanadische Freizeitparks, amerikanische Lebensversicherungsgeschäfte mit Verarmten oder Nahrungsfonds zu stecken, und dass Kupfer lange Zeit so teuer war, hat Ihnen ja auch gefallen. Und wenn jetzt in der Zeitung steht, dass der DAX, getrieben von den Geldpressen der Welt, neue “Rekorde” erreicht, dann nehmen Sie auch kein Holzscheit und schlagen die geschmierten Jubelperser der Bankkriminellen, nein, Sie überlegen sich vielmehr, Ihr Restvermögen umzuschichten und noch schnell zu den Gewinnern zu gehören. Da wird sich nie etwas ändern.

Aber Ihre Tochter. Ihr Augenlicht. Da kann man was machen. Es ist nämlich so: Letzten Freitag kam hier das Holz für die erste Winterhälfte, so viel, dass es die Katzen bis Anfang Februar warm haben. Ich will von meinen Eltern keinen Porsche, ich komme dann einfach und schlichte das Holz auf. Diesmal war ideales Wetter, genau so, wie man es in Erinnerung hat, als man das als Kind gemacht hat. Ich fand das irgendwie schön, meinem Vater bei so einer Arbeit helfen zu dürfen, ich habe auch gern Holz gehackt, das hatte etwas von Erwachsenwerden und Verantwortung, die einem zuwächst. Es gab damals, obwohl hier alle recht vermögend sind, nur einen einzigen Fall von einem, der mit 18 einen gebrauchten – wirklich nur gebrauchten – Porsche 924 bekam, die anderen durften froh sein, wenn ihre Mutter gerade ein neues Auto brauchte und sie den alten Einkaufswagen übernehmen durften. Der viertürige Fiat Uno, das war unser Standard. Mehr gab es nicht, wenn überhaupt.

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Es gab auch keine Kita, die mit uns, an den Villen unserer Eltern vorbei, in den Auwald zum See gezogen wäre. Wenn wir gewandert sind, dann mit unseren Eltern und zwar nach klaren Regeln: Zuerst so, dass wir die Eltern wenigstens nicht zu sehr behinderten. Dann schon bald so, dass unsere Eltern wieder die üblichen Routen gehen konnten. Mit spätestens acht Jahren hätten wir auch einen Tag allein in den Bergen überlebt. Und zu keiner Zeit gab es so eine Jutta, die einen offenen Wagen vor uns hergezogen hätte, um alle drei Minuten anzuhalten und zu fragen, ob wir noch können und nicht vielleicht doch lieber fahren wollten. Marschier oder stirb war das Motto meiner Kindheit, verkleidet in Ansagen wie “Da vorne ist das Jausenhaus” oder “Noch dieses Geröllfeld und wir sind an der Mittagsscharte” oder “hinter dem Dornenabhang kommt die Burg”. Und “Wenn Du es im Winter warm haben willst, musst Du eben Holz anschlichten”. Ja Holz, Buche, schwer, mit Spinnen und Dreck und allem, was dazu gehört. So war das bei uns. Und deshalb mache ich das auch heute noch, während Ihr Augenlicht nach einem Porsche fragt.

Aber das kommt halt davon, wenn das Kind von Anfang an in einer Kita steckt, in der Jutta keinen Schritt ohne den Besenwagen geht, zum Aufsammeln der Müden, Faulen oder gerade Unlustigen, damit Turboeltern wie Sie keinen Anlass haben, sich zu beschweren, weil Ihre Tochter daheim meinte, der Weg zum See wäre für ihre Füsschen zu weit. Weil, ich war ja draussen im Villenviertel, ich habe es gesehen und ein Bild gemacht, weil mir die Holzscheite aus der Hand gefallen sind: Die machen das wirklich so. All die teilweise luxusbemützten Kinder – bei 18 Grad im Sonnenschein mit Mütze!!!!! – dürfen tatsächlich, wenn sie nicht mehr wollen, jederzeit in den Wagen. Dann wird angehalten und hinein gehoben und vielleicht noch gelobt, dass sie es schon so weit geschafft haben. Es ist halt immer ein Wagen da. Und dann wundern Sie sich bitte nicht, wenn Ihre Tochter nicht in die bestens ausgebaute S-Bahn nach München steigen möchte. Sondern eben wieder so einen Wagen, wie sie es nicht anders kennt.

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Natürlich ist das alles nur gut gemeint und auch logisch begründbar, denn es erhöht den Aktionsradius von Kitas und bringt organisierten Lärm auch in ansonsten stille Nachbarschaften, und wenn ein Kind vor lauter Toben nicht mehr kann, wird es halt gezogen. Aber es ist nicht dumm und lernt: Wenn ich nur genug quengle und Schwäche zeige, muss ich gar nichts mehr tun. Dann wird mir sofort geholfen. Jederzeit. Mag ich nicht mehr gehen, bekomme ich den Wagen. Mag ich nicht lernen und bekomme ich schlechte Noten, kommt Papa mit dem Anwalt in die Sprechstunde. Gefällt mir meine Schule nicht, darf ich mir eine besonders fördernde Privatschule heraussuchen. Kann ich mit dem Klavier nicht spielen, will ich einen Bechstein. Das Kind soll es schliesslich nicht nur äusserst gut, sondern selbst hier immer noch besser haben. Papaaa, ich will einen Porsche; wenn es dann das sagt, sollten Sie vielleicht acht Ster Holz bestellen, die eine Hälfte Buche und die andere Fichte, und eine Schubkarre und darauf pinseln: Porsche 911. Aber natürlich, Kind: Hier, der Porsche, und solange das Holz vor der Garage liegt, kannst Du auch das Auto nicht mehr benutzen.

Das ist gesund und wirklich schön bei diesem Wetter, und weil sie das mit dem Wagen und den Kindern auch so kennt, wird sie vermutlich auch gar nicht verstört sein, wenn sie so etwas sieht, und nicht den ganzen Nachmittag beim Schieben und Anschlichten darüber nachdenken, was man dagegen schreiben kann.